Modernes ökonomisches Wachstum und biologischer Lebensstandard

John Komlos

Seminar für Wirtschaftsgeschichte

Universität München

Seit den anthropometrischen Pionierarbeiten Richard Steckels in den späten 1970er Jahren wurde die Forschung auf diesem Gebiet zunehmend auf die bis dahin unbekannten langen Zyklen der Körpergrössenentwicklung konzentriert, die seit der Industriellen Revolution in Europa und in Nordamerika beobachtbar sind (Steckel 1979, 1995). 1983 berichteten Margo und Steckel auf der Basis von Rekrutenlisten der Union Army erstmals von einer Verringerung der Körpergröße weißer Amerikaner bei den Geburtskohorten der 1830er Jahre (Abb.1, Margo/Steckel 1983). Mit einem solchen Rückgang konnte jedoch in einer Zeit, in der der Pro-Kopf-Output - allein zwischen 1830 und 1860 - um ungefähr 50% anstieg, nach allgemeiner Ansicht nicht gerechnet werden: Der Pro-Kopf-Output stieg mit einer jährlichen Wachstumsrate von 1,4 % (Weiss 1992). Man erwartete nicht, daß der Nahrungsmittelkonsum in einer Zeit allgemeiner Prosperität zurückgehen würde.

Die realisierte Körpergröße eines Individuums ist die Folge komplexer biologischer Zusammenhänge und der jeweiligen sozio-ökonomischen Lebensumstände. Es wird von einer positiven Korrelation zwischen Körpergröße und Nahrungsstand ausgegangen. Die Körpergrösse ist damit eine Funktion von Einkommen und Preisen, wie diese wiederum die Nahrungsmittelnachfrage determinieren. Eine eindeutige Bestimmung des Zusammenhanges zwischen Nahrungsaufnahme und Körpergröße wird dadurch erschwert, daß die Überwindung von Krankheiten aufgenommene Nährstoffe beansprucht und die Körpergröße damit in der Jugend und Kindheit vom epidemiologischen Umfeld beeinflußt wird (Komlos 1994). Die Körpergröße einer bestimmten Population liefert daher einen historischen Bericht, sowohl über den Nahrungsmittelkonsum der Bevölkerung in der Jugend, als auch über die zu dieser Zeit herrschenden Umweltbedingungen.

Zunächst erscheint es überraschend, daß mit dem Einsetzen des modernen ökonomischen Wachstums sowohl in Nordamerika als auch in Europa eine Verringerung des biologischen Lebensstandards stattgefunden hat. Diese Entdeckung läßt sich für Schweden, die Habsburger Monarchie, Bayern und das Vereinigte Königreich belegen, also für alle Europäischen Länder, die bislang untersucht wurden (Abb. 2; Sandberg/Steckel 1987; Komlos 1994; Steckel 1995; Komlos 1993; Baten, unveröff.). Die untersuchten Stichproben wiesen durchweg den gleichen Trend auf. Im Vereinigten Königreich konnte ein Absinken der durchschnittlichen Körpergröße irischer, schottischer und englischer Rekruten nachgewiesen werden. Auch für Zivilisten, z.B. bei Häftlingen, die in die Kolonien der Neuen Welt transportiert werden sollten, und bei Kindern ist eine relative Abnahme der Körpergröße feststellbar (Komlos 1993; Nicholas/Steckel 1991).

Dieser Trend zeigte sich, wenn auch erst zwei Generationen später, auch in Nordamerika. Auch hier traten ähnliche demographische und ökonomische Entwicklungen auf (Abb.1). Der Verlauf des Trends wurde anhand von Rekrutenstichproben der Bürgerkriegsarmee 1861-1865 und darüber hinaus bei Kadetten der West-Point-Militärakademie, befreiten Sklaven aus Maryland, Häftlingen in Georgia, Studenten in Amherst, pennsylvanischen Soldaten und auch Nationalgardisten aus Ohio aufgezeigt. Der Rückgang bei den Geburtenjahrgängen der 1820er und 1860er in den Vereinigten Staaten war zwar nicht groß, jedoch auch nicht zu vernachlässigen: Die durchschnittliche Körpergröße sank um 2.1 cm bei Soldaten und um 1.4 cm bei Kadetten (Komlos 1987; Komlos 1992; Komlos/Coclanis unveröff.; Steckel/Haurin 1994; Murray, unveröff.). Genau wie in Amerika waren die Menschen, die in Europa während der hungrigen Vierziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts geboren wurden, kleiner als ihre Eltern. Das Phänomen abnehmender Körpergröße bei ansteigendem Pro-Kopf-Einkommen bestimmt das Europäische Early Industrial Growth Puzzle bzw. im amerikanischen Kontext, das sogenannte Antebellum Puzzle .

Zur Interpretation dieses Phänomens scheint es ratsam, die Gesellschaftsgruppierungen näher zu analysieren, deren Körpergröße sich nicht parallel zu der restlichen Bevölkerung entwickelte, um auf diese Weise die ökonomischen Determinanten des Phänomens zu bestimmen. Drei derartige Gruppen aus unterschiedlichen sozialen Schichten lassen sich identifizieren: Europäische Aristokraten, Amerikanische Studenten aus der Mittelschicht und erwachsene männliche Sklaven. Um den Rückgang der Nahrungsmittelnachfrage auch bei steigendem Pro-Kopf-Einkommen der Anfangsphase des modernen ökonomischen Wachstums zu untersuchen, wird nun der Einfluß unterschiedlicher ökonomischer Effekte geprüft.

A) Der Einkommensumverteilungseffekt

In der Anfangsphase modernen ökonomischen Wachstums stieg das Einkommen der oberen sozialen Schichten ungleich stärker an als das der unteren Schichten (Kuznets 1966; Williamson 1985). Bei einer gegebenen Einkommenselastizität der Nahrungsmittelnachfrage von kleiner eins und einem abnehmenden Grenzertrag der Ernährung in Bezug auf das Körpergrößenwachstum ergibt sich aus dieser Einkommensrückverteilung ein adverser Effekt auf die durchschnittliche Körpergröße. Kinder aus niederen sozialen Schichten weisen eine geringere Körpergröße auf, das Körperwachstum der Kinder aus der Oberschicht bestimmt sich hingegen durch den sinkenden Grenzertrag der Nahrungsmittelaufnahme.

Stichproben der Körpergrößen von Studenten aus der Mittelschicht Deutschlands und von deutschen Aristokraten belegen diesen Trend ebenso wie entsprechende Aufzeichnungen über West-Point-Kadetten mittlerer sozialer Herkunft (Steckel 1983).

B) Der Effekt relativer Preise

Der Effekt sich ändernder relativer Preise in Bezug auf die Nahrungsmittelnachfrage sollte nicht vernachlässigt werden. Zu Beginn des modernen Wirtschaftswachstums stiegen die relativen Preise für Nahrungsmittel in Europa und in den Vereinigten Staaten substantiell. Ursache hierfür war zum Teil, daß technologischer Wandel und Kapitalakkumulation bei der Industriellen Produktion weitaus schneller zu Effizienzsteigerungen führten als in der Landwirtschaft. Im Vergleich zu den 1820er Jahren stieg der Nahrungsmittelpreis in den Vereinigten Staaten in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts um 30 %, in den 1840ern um 11% und in den 1850ern um 37 % (Komlos 1987). Ein Anstieg der relativen Nahrungsmittelpreise induzierte sogar bei den Gesellschaftsgruppen, deren Einkommen gestiegen war, eine Substitution des Nahrungsmittelkonsums. Ein repräsentativer Haushalt maximiert seinen Nutzen, indem er das konsumierte Güterbündel entsprechend einer Einkommens- und relativen Preisänderung anpaßte. Wenn sich das Einkommen erhöhte und ein höheres Nutzenniveau erreicht wurde, nahm der Nahrungsmittelkonsum wegen der geänderten Preisrelation ab. Die positive Einkommenselastizität reichte nicht aus, um den negativen Substitutionseffekt auszugleichen. Dies bedeutet nicht, daß die Konsumenten trotz gestiegenen Realeinkommens hungerten. Sie sparten lediglich bei den Ausgaben für Nahrungsmittel, z.B. dadurch, daß sie teuere Milchprodukte und Fleisch durch billigere kohlenhydrathaltige Nahrungsmittel ersetzten. In diesem Fall kann sich die Kalorien- und Proteinaufnahme gesenkt haben, auch wenn das Gewicht der aufgenommenen Nahrung gleich blieb. Kalorien, die durch den Verzehr von Fleisch oder Milchprodukten aufgenommen wurden, waren teuerer als die Kalorien, die aus Getreide und Kartoffeln stammten. Letztlich bestimmt jedoch das Gewicht den Grad an Sättigung. Im Bezug auf die Relation Nährwert pro Gewicht wurde also höherwertige Nahrung wegen der gestiegenen relativen Preise durch niedrigerwertige ersetzt. Das Ergebnis einer solchen Reallokation ist ein niedrigerer Ernährungsstatus und zwar in einem derartigen Ausmaß, daß die Körpergröße der nächsten Generation abnahm.

Eine wichtiges Faktum deutet darauf hin, daß sogar im ressourcenreichen Amerika die Männer und Frauen des neunzehnten Jahrhunderts nicht in großem Überfluß lebten: Die West Point Kadetten waren relativ untergewichtig (Cuff 1993). Obwohl ihr Nahrungsmittelkonsum bei beinahe 3800 Kalorien pro Tag lag, wog die Hälfte der Kadetten weniger als 60 kg. Dies ist ein deutliches Anzeichen dafür, daß sogar die amerikanische Bevölkerung, unter Berücksichtigung epidemiologischer Bedingungen des neunzehnten Jahrhunderts und der damaligen Arbeitsbelastung, ihren Konsum nicht so weit über ihre biologischen Bedürfnisse ausgeweitet hatte, daß ein Rückgang der Nahrungsaufnahme nicht einen Einfluß auf den Ernährungsstatus gehabt hätte.

Der Ernährungsstatus von Sklaven soll an dieser Stelle wieder in die Diskussion eingebracht werden. Es ist bemerkenswert, daß zwei unabhängige Stichproben von Sklaven, die eine basierend auf Daten über Häftlinge im Bundesstaat Georgia, die andere über Sklaven, die im überregionalen Handel versandt wurden, anzeigen, daß ihr Ernährungsstatus nicht gleichzeitig mit dem der freien Bevölkerung, weiß wie auch schwarz, zurückging (Steckel, unveröff.; Komlos/Coclanis, unveröff). Der Teil der Bevölkerung, der in den 1830ern und 1840ern über seinen Konsum frei entscheiden konnte, reagierte auf die Änderungen der relativen Preise, wohingegen, die dies nicht taten, auch nicht die Freiheit dazu besaßen. Sklavenhalter besaßen andere Anreizstrukturen, abhängige Personen zu versorgen als ein Familienoberhaupt. Dies bedeutet nicht, daß Sklaven besser behandelt wurden als die eigenen Kinder. Zu Beginn des Zeitabschnitts erhielten die Kinder von Sklaven weniger frische Milch als Kinder von freien Bürgern. Während jedoch private Haushalte in den Vorkriegsjahren die Menge an Milch, die für den eigenen Verbrauch vorgesehen war, senkten, taten dies die Sklavenhalter nicht. Darüber hinaus arbeiteten viele Heranwachsende in fremden Haushalten als Lehrlinge. Während also Sklavenhalter das erarbeitete Grenzprodukt der von ihnen ernährten Sklaven erlangten, war dies innerhalb eines freien Haushalts nicht im gleichen Ausmaß der Fall. Für den Sklavenhalter war der Preis der Nahrung im Vergleich zum Wert des Grenzproduktes der Arbeit eines Sklaven (widergespiegelt in seinem Preis) und nicht die Relation zum Preis industrieller Güter von Bedeutung. Der tatsächliche Anstieg der Sklavenpreise relativ zu den Nahrungsmittelpreisen war ein hinreichender Anreiz für Sklavenhalter, den Ernährungsstatus ihrer Sklaven beizubehalten (oder sogar zu erhöhen). Im Vergleich zu den 1820er Jahren erhöhte sich in den 1830ern der durch einen Preisindex für Nahrungsmittel dividierte Index der Sklavenpreise um 18 %, um 28 % in den 1840ern und um 64 % in den 1850ern. Dies bedeutet, daß ein Sklavenhalter einen Anreiz hatte, die Nahrungsmittelversorgung von Sklaven zu erhöhen (Ranson/Sutch 1988). Daher ist das Verhalten bei der Versorgung von Sklaven ein indirektes Anzeichen für die Bedeutung des Effektes relativer Preise für den freien Teil der Bevölkerung.

C) Der Effekt der Einkommensvariabilität

Mit Beginn der Industrialisierung wurde das Geldeinkommen für den Großteil der Gesellschaft viel variabler. Der Grund dafür, daß die Körpergröße von West Point Kadetten aus der Mittelschicht nicht zurückging, war nicht nur, daß ihr Einkommen schnell genug anwuchs, um den Substitutionseffekt zu überwinden. Darüber hinaus besaß das Einkommen ihrer Familien eine kleinere Varianz als das der übrigen Bevölkerung. Das Einkommen von Kaufleuten, Staatsbediensteten, Beamten und Freiberuflern unterlag wohl kaum derart starken zyklischen Schwankungen wie das der übrigen Gesellschaft. Im Gegensatz dazu war der Fortschritt für die einfache Bevölkerung von mehreren gewichtigen Rückschlägen begleitet. Auch wenn der Rückgang des Nahrungsmittelkonsums, der durch diese ungünstigen Konjunkturphasen ausgelöst wurde, von temporärer Natur war, hemmte er dennoch das Körperwachstum der Kinder von Arbeitern. Ein konjunktureller Abschwung von drei bis vier Jahren war zu lang, als daß die Kinder ihr natürliches Wachstumsprofil hätten wieder erreichen können, wenn die Eltern ihr Einkommen gemäß des langfristigen Trends wieder gesteigert hatten.

D) Der Effekt der Marktintegration

In der vorindustriellen Welt hatte die geographische Distanz zu Märkten tendenziell einen positiven Einfluß auf den Ernährungsstatus, weil der gesamte Ertrag des Bauernhofes ausschließlich innerhalb des Haushalts konsumiert wurde. Dies war in Maryland genauso der Fall wie in Japan und findet auch für den Größenvorsprung der Iren und Schotten vor den Engländern seinen Ausdruck. Bislang wurden keine Ausnahmen von dieser Regel gefunden. Marktexpansion als Teil des modernen ökonomischen Wachstums implementiert die steigende Integration von isolierten Regionen in eine größere Welt. Dies wiederum bedeutete, daß bisher autarke Bauern plötzlich der Möglichkeit gegenüberstanden, ihre Produkte am Markt zu verkaufen. Während sie, zweifelsohne, sowohl monetär als auch in Bezug auf ihren Gesamtnutzen von diesen Transaktionen profitierten, gaben sie jedoch den Konsum von Proteinen, Mineralien und Vitaminen auf, der für die Gesundheit und den Ernährungsstatus ihrer Kinder essentiell wichtig gewesen wäre.

Eine weitere Begleiterscheinung modernen ökonomischen Wachstums ist die Verbesserung des Transportsystems, die wiederum die Marktintegration vorantreibt. Verbesserungen des Transportsystems eliminierten die beachtliche Divergenz des Ernährungsstatus zwischen Stadt- und Landbevölkerung. Dennoch entstanden auf dem Transport Kosten in Form von verlorenen Nährstoffen.

Bis zur Erfindung von Kühlwagons war der Transport von Milchprodukten über lange Strecken unmöglich. Dies muß beim Rückgang der Körpergröße eine wichtige Rolle gespielt haben, da Milchprodukte entscheidende Nährstoffe für das optimale physisches (und mentale) Wachstum bereitstellen.

Zusammenfassend bleibt festzustellen, daß eine Anzahl verschiedener Gründe denkbar sind, weshalb Urbanisierung, Kommerzialisierung, Industrialisierung und regionale Spezialisierung es erschwerten, den Ernährungsstatus aufrecht zu erhalten. Für Militärpflichtige auf der Ebene der 178 bayerischen Distrikte ist eine positive Korrelation zwischen der Pro-Kopf-Milchproduktion und der Körpergröße feststellbar (Baten 1996).

E) Der Bevölkerungswachstumseffekt

Auch das Bevölkerungswachstum bewirkt, aufgrund abnehmender Grenzerträge der Arbeit im landwirtschaftlichen Sektor, eine Abnahme des Ernährungsstatus. In Europa waren die Möglichkeiten für eine Ausweitung der Nutzfläche beschränkt. Es überrascht daher nicht, daß beide Episoden von sinkendem Ernährungsstatus mit einer rapiden Bevölkerungsexpansion einhergingen. Im Europa des späten neunzehnten Jahrhunderts erreichte das Bevölkerungswachstum eine Rate von jährlich einem Prozent. In den Vereinigten Staaten wuchs die Bevölkerung vor dem Bürgerkrieg um drei Prozent jährlich.

F) Der Urbanisierungseffekt

Ein anderer Effekt, der während der betrachteten Epoche von herausragender Bedeutung war, ergibt sich aus der beschleunigten Urbanisierung. Sie ist eng mit der Integration der Märkte und der Industrialisierung verflochten. Die Urbanisierung war von Bedeutung, da Stadtbewohner, wie alle anderen, die nicht in der Landwirtschaft arbeiteten, im Durchschnittlich weiter von der Quelle des Nahrungsangebotes entfernt lebten. Daher zahlten sie nicht den Preis, zu dem die landwirtschaftlichen Produkte von den Produzenten verkauft wurden, sondern zusätzlich die Kosten für Transport und Zwischenhändler. Der wahrscheinlich wichtigste Grund für den Einfluß der Urbanisierung auf den Ernährungsstatus war, daß die Transporttechnologie bis zur Erfindung von Gefrierwagons nicht hinreichend weit fortgeschritten war, um den Transport von Milchprodukten oder frischem Fleisch über weite Strecken zu gewährleisten. Dies hatte zur Folge, daß sich die Schere zwischen ländlichen und urbanen Preisen weiter öffnete. In den Vereinigten Staaten wuchs die städtische Bevölkerung in den Jahren zwischen 1800 und 1860 mit einer jährlichen Rate von fünf Prozent.

J) Der Effekt epidemiologischer Umstände

Eine gestiegene Bevölkerungsdichte sowie die wachsende Handelsaktivität begünstigte die Ausbreitung von Seuchen. Je stärker Krankheiten die Verwertung von Nährstoffen im Körper beanspruchten, desto häufiger wurden Krankheitsfälle und desto mehr stieg die Ansteckungsgefahr. Die Notwendigkeit gesteigerter Nährstoffaufnahme nahm zu und der Ernährungsstatus der betroffenen Bevölkerung ab.

Wäre ein Rückgang der Körpergrößen ausschließlich durch eine Verschlechterung des epidemiologischen Umfeldes bedingt, so würde man erwarten, daß alle Segmente einer Gesellschaft davon betroffen wären. Seuchen berücksichtigen bei ihrer Ausbreitung keinen sozialen Status. Die Tatsache, daß die Körpergröße einiger Bevölkerungssegmente nicht zurückging, ist daher ein Anzeichen dafür, daß das verstärkte Auftreten von Epidemien nicht die einzige Ursache für das "Early-Industrial-Growth-Puzzle" war. Immerhin war ein Großteil der deutschen Studenten und der mittelständischen amerikanischen Kadetten urbaner Herkunft, und somit in ihrer Kindheit den gleichen Umweltbedingungen ausgesetzt, wie die Unterschichten. Eine räumliche Trennung nach sozialem Status war in den amerikanischen Städten der Vorkriegszeit noch nicht sehr verbreitet. Dies hatte zur Folge, daß Vermögen und Sterblichkeit nicht korreliert waren (Steckel 1988). Sklaven lebten eher in ländlicher Umgebung. Dies gilt jedoch auch für freie Farmer, deren Körpergröße aber - im Gegensatz zu den Sklaven - substanziell abnahm. Es läßt sich schlußfolgern, daß der Rückgang der Körpergrößen wenigstens teilweise von einer verminderten Nährstoffaufnahme und nicht aussschließlich von einer Verschlechterung des epidemiologischen Umfeldes verursacht wurde.

Es ist möglich, daß eine Verschlechterung des epidemiologischen Umfeldes zwar die unteren Einkommensgruppen betraf, die vermögenderen Gruppen jedoch diesem negativen Einfluß durch einen hinreichenden Einkommensanstieg entgegenwirken konnten. Somit konnte ihre Körpergröße trotz des angewachsenen Nahrungsmittelbedarfes unbeeinflußt bleiben. Bislang wurde jedoch nicht nachgewiesen, daß das Auftreten von Seuchen mit Beginn des modernen ökonomischen Wachstums zunahm.

Zusammenfassung

Die dargestellten Fakten legen nahe, daß der biologische Lebensstandard des Durchschnittsbürgers mit Beginn des modernen ökonomischen Wachstums sowohl in Europa als auch in Amerika zurückging. De facto besteht kein theoretischer Widerspruch zwischen der Entwicklung des säkularen Trends des Realeinkommens und der Entwicklung der Körpergröße. Das "Early-Industrial-Growth-Puzzle" kann mit Hilfe konventioneller ökonomischer Theorien erklärt werden. Die Verringerung der Körpergrößen wurde von langfristigen, sich verstärkenden ökonomischen Prozessen und strukturellem Wandel begleitet, die mit dem Beginn modernen ökonomischen Wachstums einher gingen. Der langsamere Anstieg der Produktivität im landwirtschaftlichen Sektor, der Anstieg der relativen Preise von Nahrungsmitteln und eine noch in ihren Kinderschuhen steckende Transportrevolution bewirkten, daß weniger Milch und Fleisch als früher für die Kinder und Jugendlichen einiger Gesellschaftsgruppen zur Verfügung standen. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Mägen leerer wurden, sondern eher, daß sich die Zusammensetzung der Nahrungsaufnahme zu Gunsten von Kohlenhydraten änderte. Das "Early-Industrial-Growth-Puzzle" ist also kein so großes Rätsel mehr.

In der Tat waren viel Zeit und einige technologische Innovationen notwendig, damit diese Gesellschaften zu ihrem vormaligen Ernährungsmaximum zurückkehren konnten. In South Carolina beispielsweise setzte erst mit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ein Anwachsen der durchschnittlichen Körpergröße ein (Komlos/Coclanis 1995). Mit der Senkung der transatlantischen Transportkosten wurde die Produktivität der amerikanischen Landwirtschaft in die Reichweite europäischer Konsumenten gerückt. Die Erfindung von Kühlwagons ermöglichte es, verderbliche Ware über weite Entfernungen hin zu transportieren. Verbesserungen in der öffentlichen Hygiene wie auch der Ausbau der Kanalisation leisteten hierzu ebenso ihren Beitrag wie der medizinische Fortschritt.

Meiner Meinung nach impliziert das "Early-Industrial-Growth-Puzzle", daß Fortschritt während der Anfängen des modernen ökonomischen Wachstums nicht in allen Bereichen menschlicher Existenz gleichzeitig auftrat. Dies war eher selten der Fall. In vielerlei Hinsicht waren die einfachen Frauen und Männer dieser Epoche nicht so gut gestellt wie ihre Eltern. Es gab eine Divergenz zwischen dem konventionellen Lebensstandard, wie er üblicherweise verstanden wird, und dem biologischen Wohlbefinden der Menschen in Amerika und Europa. Der menschliche Organismus gedieh in seiner neu geschaffenen sozioökonomischen Umwelt nicht so gut wie man auf der Basis der Pro-Kopf-Einkommen glauben würde. "The absolute gain in income achieved by Modern Economic Growth in the early industrial period, ... was simply too low to offset declines in health." Mit zunehmendem Alter litten Amerikaner, die in den Vorkriegsjahren geboren wurden, häufiger an Rheuma, Brüchen, und Erkrankungen der Atemwege als jene, die vor Beginn des ökonomischen Wachstums geboren wurden (Costa/Steckel, unveröff). Die anthropometrische Geschichte liefert uns ein vielschichtiges Bild über das Wohlbefinden der Menschen, die während des rapiden Strukturwandels des modernen Wirtschaftswachstums lebten.

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